Märchen: Vampierre und seine Hexen und das ganz große Ching

In einem finsteren Schloss im fernen Rumänien hauste ein Vampir. Der war schon viele hundert Jahre alt und sehr verdrießlich. Nichts machte ihm Freude, nichts erschien ihm sinnvoll, denn es fehlte ihm etwas. Er war schon viel in der Welt herum gekommen, hatte Bücher gelesen und Bücher geschrieben. Doch all sein Wissen, all sein Streben hatten ihm eines immer noch versagt: die Enthüllung des einen großen Geheimnisses, das ihn Zeit seines einsamen Vampirdaseins um trieb, ihm keine Ruhe ließ, den Schlaf raubte. Er suchte es, er begehrte es, er verzehrte sich danach, obgleich er nicht einmal wusste, was es war, ja nicht einmal, woher er wusste, dass es existierte – das ganz große Ching.

Rings um das Schloss war eine große Stadt gewachsen. Vampierre aber liebte die Einsamkeit und näherte sich den Lebenden nicht, die die Stadt bewohnten. Er verließ das Schloss nur, sobald die Dunkelheit herein gebrochen war, und statt zu fliegen, wie es die Vampire tun, besaß Vampierre ein zweirädriges Tretfahrzeug, welches er vortrefflich schnell zu fahren wusste.

Eines Nachts schickte sich Vampierre, eine noch unerprobte Straße für seine Fahrkunst aufzusuchen, welche jedoch tief, tief im Wald verborgen lag. Er hatte die Straße beinahe erreicht, als er in der Ferne eine dunkle Gestalt erblickte, die ihm auf der Mitte seines Weges raschen Schrittes entgegen trat. Es war ein altes Weib, das hieß ihn von seinem Fahrzeug abzusteigen und sprach ihn an: „He! Du da! Bist du Vampierre?“ Verdutzt schaute Vampierre sich um. Er zauderte und sagte nichts. Da nickte das alte Weib und lächelte ein zahnloses Lächeln, während es in den Taschen seiner zerlumpten Schürze kramte. „Hier!“ sprach es und streckte ihm einen goldenen Schlüssel hin. „Das ist der Schlüssel.“ Vampierre wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. „Na der Schlüssel zum ganz großen Ching“, raunte da das Weib. „Warte bis zum Tag der Walpurgisnacht. Dann finde dich um Mitternacht auf dem Hexenberg ein.“ Und ohne ein weiteres Wort verschwand das Weib im Dunkel. Vampierre zuckte mit den Achseln, steckte den Schlüssel in seinen schwarzen Umhang, stieg auf sein Zweiradfuhrwerk und schon bald erreichte er die Straße, nach welcher er gesucht hatte, die Alte und ihre Worte aber hatte er vergessen.

Doch was war das? Lichter wie aus tausend und abertausend klitzekleinen Fackeln tauchten rings um ihn herum auf, sanfte Trommeln ertönten und mittendrin im Lichterglanz tanzte ein Wesen, wie er es noch nie zuvor gesehen hatte, einen unermüdlichen Hexentanz. Bummbumm, bumm, bumm! Vampierre erstarrte und zauderte aufs Neue, ein magischer Sog ging von dem Hexenwesen aus, er versuchte ihm zu entrinnen, doch je mehr er es versuchte, umso größer ward die Kraft, die das tanzende Weib umgab und ihn näher und näher zu sich heran zog, bis er ihm am Ende dicht gegenüber stand. Das Hexenwesen schaute ihn aus funkelnden Augen an. „Ich habe dich gerufen“, sprach es und sah tief in seine Vampirseele hinein. „Wisse: Ich kann die Toten rufen! Und nun bist du hier. Ich bin die Torhexe. Ich bewache das Tor, das in die Unterwelt führt. Und ich weiß auch, wer du bist.“ Da erzählte ihm die Torhexe, dass das ganz große Ching schon lange in der Unterwelt auf ihn gewartet hätte und dass es nun an der Zeit wäre, es zu finden. „Kannst du mich zum Hexenberg bringen?“, fragte Vampierre. „Bringen kann ich dich schon“, antwortete die Hexe, „aber kann dein altes Vampirgewand dich denn noch durch die Lüfte tragen? Der Weg zum Hexenberg ist weit, zu Fuß oder mit deinem Tretwerk da wirst du ihn nicht mehr rechtzeitig erreichen. Die Walpurgisnacht ist schon ganz nah!“ Da sprang die Torhexe in den Kessel, der neben ihr stand, und sauste in ihm unter schallendem Lachen dem prallen Vollmond entgegen. Vampierre zögerte nicht lange, breitete seinen pechschwarzen Umhang aus und flog ihr nach.

Sieben Jahrhunderte war es her, dass Vampierre zum letzten Mal geflogen war. Ganz weit wurde es in seiner Brust, als er über das mondbeschienene Meer von schwarzen Tannenwipfeln glitt. Ihm voran, wie der Wind, sauste der Hexenkessel mit der Torhexe darin. Und obwohl sie viele Stunden zu fliegen hatten, schien diese Nacht nicht enden zu wollen, es war, als hätte sich ein dunkler Schleier über die Erde gelegt.

Ein grauer Nebelschlund hatte den Hexenberg verschluckt, als um Punkt zwölf zur Walpurgisnacht Vampierre und die Torhexe den Hexenberg erreichten. Vampierre sah sich um. Ein namenloses, nicht enden wollendes Grau umgab ihn, in dem nichts mehr zu erkennen war. Auch die Torhexe war im Nebel verschwunden. Nur ihre rauhe Stimme war noch zu hören: „Du musst durch das Tor gehen!“, krächzte sie. Und auf einmal stand da ein großes Tor aus schwerem Eisen. Vampierre rüttelte daran. Doch es war fest verschlossen. Da fiel ihm der goldene Schlüssel wieder ein, den das alte Weib ihm gegeben hatte. Vampierre zog ihn aus seinem Umhang und siehe da: Er passte wie angegossen und kaum steckte er drinnen im eisernen Schloss, sprang das Tor auf und öffnete sich laut und langsam, wie von Zauberhand. Vampierre trat hindurch.

Auf der anderen Seite des Tores stand er auf einem grünen Berg inmitten von vielen tausend bunten Blumen und über ihm strahlte eine helle, warme Sonne. Alles schien hier groß und hell zu sein. Vampierre sah Bäume, die weit in den Himmel ragten, und Vögel mit Schwingen so groß wie die Segel eines Schiffes. Und was war das? Vampierre fühlte, wie das Blut wieder durch seine Adern floss, wie das Herz in seiner Brust schlug und Wärme ihn durchströmte. Das Leben war in ihn zurück gekehrt! Sein schwarzer Umhang aber, mit jenem er geflogen war, war verschwunden. So musste er nun zu Fuß weiter gehen. Da saß auf einmal vor ihm eine große dicke Kröte. Die fragte ihn: „Ei ei ei vampirei vampirir! Wer ist es und was sucht er hier? Ei ei ei vampirei vampirir! Sprich zu mir!“ Neben der Kröte stand ein Topf und über ihrem Kopf flogen zwei kleine elfenhafte Wesen, die so schnell durch die Luft wirbelten, dass Vampierre sie nicht erkennen konnte. So sehr er seine Augen auch anstrengte: sie waren überall und nirgendwo zugleich! „Ich bin Vampierre. Ich suche das ganz große Ching“, antwortete er. Da rief die Kröte: „Ei ei ei kommt herbei!“ und im selben Augenblick kamen die kleinen Elfenwesen heran geflogen. Doch nun erst konnte Vampierre erkennen, dass es keine Elfen waren, sondern klitzekleine Hexen, die auf winzigen Besen ritten. Die Kröte aber sprach: „Das Ching ist sein Begehr! Vampiri und vampierre! Ei ei ei! Musst sputen dich, es wartet nich‘! Wird gelingen! Wird gelingen! Musst mir nur das Wasser des Lebens bringen!“ „Wo finde ich das Wasser des Lebens?“, erkundigte sich Vampierre. Da erzählte ihm die Kröte, am Ende der Welt stünde ein riesiger Baum, der größte unter den Bäumen, der immergrüne Rosenbaum. Am Fuße jenes Baumes aber sprudele eine Quelle. Da heraus ließe sich das Wasser des Lebens schöpfen. Er müsse nur ihren Topf füllen und ihn ihr bringen. Die beiden kleinen Hexen aber sollten ihn begleiten. „Das hier ist die Mondhexe. Und das da die Rosenhexe. Sie wacht über den Rosenbaum“, quackelte die Kröte. Und dann machten sie sich auf den Weg.

Der Weg zum Ende der Welt war weit. Die drei Wanderer überquerten erst ein, dann noch ein Gebirge mit Bergen, die so hoch waren, dass ihre Gipfel mit dem Blau des Himmels verschmolzen. Des Nachts bauten sie sich Zelte aus Geäst und Blättern. Sie liefen viele Tage lang, bis sie am Ende der Welt den Rosenbaum, den König aller Bäume fanden. Vampierre schaute an ihm herauf bis dahin, wo seine große Krone den Himmel berührte, und atmete den Duft von abertausend roten Rosenblüten. An den Wurzeln aber rauschte eine klare Quelle. Vampierre nahm das Töpfchen und wollte es mit dem frischen Wasser füllen. Doch kaum hatte der Rand des Töpfchens das Wasser berührt, da wich das Wasser zurück. Er versuchte es wieder und wieder. Aber vergeblich. Er vermochte das Töpfchen nicht zu füllen. Da lachten die beiden kleinen Hexen aus voller Kehle und hämisch sprach das Rosenhexlein: „Von keinem lässt das Wässerchen sich schöpfen. Es will nur meinen Rosenbaum begießen.“ Vampierre wurde zornig und wollte das Hexlein fangen. Doch dieses flog auf seinem kleinen Besen davon auf den untersten Ast. „So habt ihr mich den ganzen Weg umsonst gehen lassen!“, rief er und setzte sich betrübt an den Brunnenrand. Da sprach das Mondhexlein: „Verzage nicht, Vampir Vampierre! Das Wässerchen ist launisch und liebt es zu spielen. Es gibt dir drei Aufgaben. Wenn du die erfüllst, soll dein Töpfchen von Lebenswasser überfließen!“ „Gut, dann nenne mir die erste Aufgabe“, antwortete Vampierre. „Nimm das Töpfchen und gieße damit den Rosenbaum!“ Vampierre war nun noch betrübter als zuvor. „Ich kann diese Aufgabe nicht lösen“, sprach er. „Das Wasser weicht zurück, wenn ich es schöpfen will.“ Abermals lachten die kleinen Hexen und murrend nahm Vampierre das Töpfchen, um erneut sein Glück zu versuchen. Und siehe da: das Wasser floss artig in das Töpfchen und Vampierre wässerte den Rosenbaum, bis die Erde rings um ihn herum weich und frisch war.

Nun fragte er, wie denn die zweite Aufgabe laute. Da antwortete die Mondhexe: „Bringe mir den Mond vom Himmel.“ Wieder erwiderte Vampierre, dass das unmöglich sei. Keiner könne den Mond vom Himmel holen. „Klettere den Rosenbaum hinauf!“, sagte da das Rosenhexlein. „So wirst du schon sehen, dass du es kannst.“ Vampierre kletterte den Baum hinauf, Ast um Ast, Stund um Stund. Als er endlich die obersten Zweige erreicht hatte, dunkelte es bereits und der Mond war schon aufgegangen. Vampierre streckte seine Hände nach ihm aus, aber er konnte ihn nicht fassen. War der Rosenbaum auch der größte unter allen Bäumen, so reichte er doch nicht bis zum Mond hinauf. Als Vampierre verdrossen sich wieder an den Abstieg machte, sah er von seinem Ast aus, wie sich der Mond im klaren Brünnlein spiegelte. Das war es also! Eilig schwang sich Vampierre Ast für Ast wieder nach unten und rief den Hexlein schon von der Mitte des Baumes zu: „Ich hab ihn! Da ist er, der Mond! Er schwimmt in der Mitte des Wassers!“

Nun bat Vampierre die beiden Hexen, ihm die dritte Aufgabe zu nennen, damit er endlich der dicken Kröte das Wasser des Lebens bringen und sie ihm dafür das ganz große Ching geben könne. „Das hätten wir nicht gedacht, dass du es so weit bringst“, antworteten die beiden Hexen. „Die dritte Aufgabe ist die schwerste. Du musst unsere Schwester, die Chinghexe, finden. Sie verschwand vor langer Zeit durch einen bösen Zauber. Nicht einmal wir wissen, wo sie ist.“ Nun wusste Vampierre sich keinen Rat mehr. Diese Aufgabe war wahrhaftig nicht mehr zu lösen und Vampierre, die Mondhexe und die Rosenhexe begaben sich mutlos zum großen Tor zurück. Die Kröte, die dort gesessen hatte, war verschwunden. „Wir kommen mit durch das Tor“, sagten die Mondhexe und die Rosenhexe und wieder öffnete sich das Tor wie von Zauberhand. Sowie sie durch es hindurch schritten, ward es ganz kalt um sie herum. Schneeflocken fielen auf sie hernieder und der Boden unter ihnen gefror zu kaltem, glattem Eis.

Als sie auf dem Hexenberg standen, schien die Sonne hell und warm. Kein Schnee und auch kein Nebel war zu sehen. Doch statt der Torhexe saß da die alte Kröte und blinzelte ihnen zu. Vampierre war nun wieder ein lebloser Vampir. Kein Blut floss durch seine Adern. Kein Herz schlug in seiner Brust und er war verdrießlich wie eh und je. Als er aber in die Augen der Kröte sah, erkannte er ein vertrautes Funkeln wieder, dass ihm tief in seine Vampirseele hinein sehen konnte. „Du bist die Torhexe!“, rief er und wirklich wurde aus der dicken Kröte nun wieder die Torhexe, denn Vampierre hatte sie erlöst. Da öffnete sich auf einmal das große Tor und aus ihm heraus floss ein Bächlein des Lebenswassers.

Darauf kam die Chinghexe geschwommen, die saß in einer Nussschale und war noch winziger als die Mondhexe und die Rosenhexe. Wieder wusste Vampierre nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Und er fragte sich, woher er nun das ganz große Ching bekommen solle. Da sprach die Torhexe: „Das ganz große Ching, das ist schon mitten unter uns. Wir zusammen sind das ganz große Ching.“ Und wie Vampierre diese Worte vernommen hatte, da fühlte er, wie das Blut wieder durch seine Adern floss, wie das Herz in seiner Brust zu schlagen begann und wie das Leben sich in ihm regte, warm und froh. Da beschloss er, sein finsteres Schloss in der großen Stadt zu verlassen und fortan mit den vier Hexen in ihrem Hexenhäuschen zu leben. Sein schwarzer Umhang aber, der ihn einst durch die Lüfte getragen hatte, war nun für immer verschwunden. Doch das kümmerte ihn nicht. Er hatte ja sein Tretfahrzeug.

Ende.

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