Märchen: Der Dunkle und der Glückliche

Der Dunkle und der Glückliche

„Ach, was gäb ich drum, auch einmal ein Mensch zu sein.“ Der Marionettengeneral drehte seinen hölzernen Kopf, den ein paar Gauner schon um seine gläsernen Augen gebracht hatten, hin zu seinen zwei einzigen, ebenfalls augenlosen Kameraden, dem Prinzen mit dem kleinen Holzschwert und der Hofdame mit der wollweißen, mottenzerfressenen Turmfrisur. „Wer an lumpigen Fäden hängt, kann nicht recht heldentümliche Taten vollbringen und erst recht keine Befehle erteilen. Was ist das Leben schon Wert als bedeutungslose, schäbige Puppe?“ In der Dachstube des längst verstorbenen Puppenspielers ließ sich das turbulente, geschichtenreiche Leben, das die drei Puppen einst genossen hatten, die gespannten Lippen, die lauschenden Kinderohren, die weit aufgerissenen Augen, die das Puppenspiel gebannt verfolgten, der tosende Applaus mal vieler, mal wenigerer, mal großer, mal kleinerer Hände, ließ sich all das, was das Leben der drei einst lebenswert gemacht hatte, nur noch erahnen, war nur noch ein Schatten in der ohnehin schwachen Erinnerung der drei einst fast lebendig anmutenden Holzfiguren.

Dunkel und kalt war es in der Dachstube, der ganze Dachboden bis auf ein paar wenige Dinge geplündert, darunter nur noch nutzlose Gegenstände und diese eine Truhe. Sie war einmal randvoll mit kunstfertig und liebevoll geschnitzten Puppen gewesen. Jetzt waren nur noch die drei übrig. Der General, die Hofdame, der Prinz. „Was nützt es mir, ein Mensch zu sein?“ wandte die Hofdame ein. „Ein Mensch muss sterben, eine Puppe darf für immer leben. Nur scheint mir die Umgebung nicht ganz angemessen. Ein Schloss muss ich haben, Diener und neue Kleider. Die Zugluft und der Staub eines Dachstübchens ruinieren mir Frisur und Gesundheit.“ Der Prinz aber schwieg. Man hatte ihn mit dem Rücken auf dem Truhenboden liegen lassen, seine leeren Augenhöhlen waren durch den geöffneten Truhendeckel auf die Dachbalken gerichtet, welche den Dachboden von den Sternen trennten. Er ahnte, wie nahe die Sterne ihnen sein mussten, ahnte, dass etwas sie von ihnen trennte. Aber sehen konnte er nichts. Sehen konnte auch die Hofdame nichts, auch nicht der General. Augen, dachte der Prinz mit dem kleinen Holzschwert, Augen sind ein großes Gut.

Da hörten die drei ein Scheppern und Rumpeln, gefolgt von leisem Gemurmel, und bekamen es mit der Angst zu tun. „Man nennt mich den Dunklen“, murmelte eine tiefe, dunkle Stimme. „Ich bin der Geist der verborgenen Wünsche.“ Der Dunkle verwandelte den General in einen Menschen und das alte, zerfallene Haus in ein Schloss, einen Menschen ohne Augenlicht aber, und ein Schloss, dass nur noch einer Ruine glich. Nur bemerkten der General und die Hofdame die schwerwiegenden Mängel nicht, sie hatten längst vergessen, dass sie einmal sehen konnten. „Wohlan!“ rief der General, sein nun nicht länger argloses Gewehr in der Rechten, und schoss. Und hast-du-nicht-gesehen, da zerfraßen lodernde Flammen die Dachbalken, und nicht mehr lange, da brannte die Ruine lichterloh. Der General aber tappte in der ewigen Dunkelheit umher, griff bald nach hier und bald nach da, um irgendmöglichen Halt zu gewinnen, doch überall hatten die feurigen Zungen um sich gegriffen. Dem General wurde heiß, er wusste weder ein noch aus. Da griffen seine menschlichen Hände etwas hölzernes.

Es war eine Marionette mit wollener Turmfrisur, die Hofdame. Der General umklammerte die Puppe, seine Füße stolperten die morschen Treppen hinab und – oh Wunder – erreichten den Schlossgarten. Der Prinz mit dem kleinen Holzschwert aber, er hatte in der Truhe gelegen und alles mit ansehen müssen. Ihm nämlich hatte der Geist der verborgenen Wünsche ein Paar himmelblaue glasklare neue Augen eingesetzt. „Bitte! Herr Geist!“ rief er in die tosenden Flammen, „Guter, dunkler Geist! Trag mich hier fort, sonst werden meine armen, hölzernen Glieder elendig verbrennen!“ „Wohin soll ich dich tragen?“ fragte der Dunkle. „Treppabwärts in die schützenden Gewölbe!“ Angst und Verzweiflung lagen in der Stimme des kleinen Prinzen. Behutsam glitten die körperlosen sanften Arme des dunklen Geistes in das Innere der Truhe und hoben den Prinzen mitsamt seinem kleinen Holzschwert hinaus. Sie erreichten das Kellergewölbe ohne dass dem Prinzen ein Haar gekrümmt wurde, nicht ein einziger winzig kleiner Funken hatte das Holz der Puppe berührt. „Hier liegen die verborgenen Schätze des Hauses“, sprach der Dunkle. „Die Menschen haben sie vergessen. Die Stollen sind verschüttet.“ Er setzte den Prinzen ab und wie durch ein Wunder trugen ihn seine Beine, genauso, wie sie es damals taten, in seinen glücklichen Jahren, als die Hände des Puppenspielers ihm durch die Fäden an seinen Händen, an seinem Kopf und an seinen Beinen ihre Lebendigkeit eingehaucht hatten.

Sie trugen ihn tief in den längsten und finstersten Stollen hinein, an dessen Ende ein seltsames Licht zu erkennen war, als leuchte ein kleiner Stern an einem unbekannten fernen Ort. Der kleine Prinz lief und lief und der seltsame Stern wurde größer und größer. Es war aber kein Stern. Es war der Glückliche, der große Bruder des Dunklen. Sein Gewand leuchtete wie der klare Morgen. Sein Lächeln war gütig und voller Weisheit und Kraft. Seine Hände lagen gestützt auf einen Brunnenrand. „Du hast dir Augen gewünscht“, sprach er zum Prinzen mit dem kleinen Holzschwert. „Nun sieh in diesen Brunnen hinein. Es ist der Brunnen der Wahrheit. Was du siehst, das wird dir zuteil, denn du siehst einen Teil deiner selbst.“ Der kleine Prinz aber erschauderte beim Anblick des hellen Geistes, so hell und so klar ruhte dessen durchdringender Blick auf ihm, der kleinen hölzernen Marionette. Zaghaft lugte er in die Tiefe. Und was er erkannte, tief drunten auf dem Grunde, das war ein Topf voller purem, blankem Gold. Der Dunkle, der eben noch hinter ihm gestanden hatte, hob ihn so sanft auf seinen Arm, wie er es schon einmal getan hatte, und sprang mit ihm in die Tiefe hinein. Eine schier ewig währende Ohnmacht überkam den kleinen Prinzen. Es träumte ihm, er flöge hinauf zu den Sternen, mitten hindurch durch alle erdenklichen Himmelskörper, den einen oder anderen zaghaft mit dem kleinen Holzschwert streifend.

Dann erwachte er. Die Sonne schien hell und warm. Er saß inmitten eines zauberhaften Gartens. Es war der Garten des Hauses, in dem einst der Puppenspieler gelebt hatte, doch war dieses nun nicht mehr alt und zerfallen, sondern schöner als je zuvor. Die Schlossruine aber war verschwunden. Der Prinz mit dem kleinen Holzschwert sah sich um und erkannte neben sich den Topf voller Gold, den er zuvor auf dem Grunde des rätselhaften Brunnens tief drinnen in den Schächten des Puppenspielerhauses entdeckt hatte. Der blinde General mit der Marionettendame in seiner Hand unterdessen war im Garten umhergeirrt, mit seinen Kleidern in wilden Hecken hängen geblieben, an knorrige Apfelbäume gestoßen und schließlich in eine tiefe Grube und gleichzeitig mit dem Prinzen in eine ihm ewig erscheinende Ohnmacht gefallen. Auch er erwachte im hellen, warmen Sonnenschein, und er konnte es sehen. Die Dunkelheit war seinen Augen entwichen. Das Gewehr aber war verschwunden. Der General besah sich die kleine Marionette in seiner Hand mit der mottenzerfressenen Turmfrisur. Dann stand er auf, kletterte aus der Grube hinaus und erblickte einige Schritte von ihm entfernt den kleinen Marionettenprinzen mit dem Holzschwert und zwei himmelblauen Augen aus feinstem Glas. Auch den Topf voll Gold fand er daneben liegen und hob ihn auf. Er kaufte der Hofdame zwei anmutig klimpernde Augen, schnitzte ihr und dem kleinen Prinzen noch hundert Kameraden, baute eine kleine Bühne und ließ die Puppen auf ihr tanzen. Und wenn der neue Puppenspieler nicht gestorben ist, dann tanzen sie noch heute.

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