Seit 7 Jahren bin ich Vater. Und nahezu ebenso lang wundere ich mich, wie es sein kann, dass sich die Ansichten zur Erziehung in den neueren, aktuellen Generationen so verändern können. Es ist teilweise ein Graus, sich anzuhören, wie meine Großmuttergeneration (geboren 1936) zu einigen Themen steht. Altbekannte Unsinnigkeiten, wie „Schreien ist gut für die Lunge“.
Die Mutterliebe in den 60ern
Eine Geschichte erzählte mir meine Oma einmal stolz:
Sie hatte meine Mutter als Kleinkind, ich schätze von einem 1 Jahr allein zu Haus. Sie wollte Wäsche-Aufhängen gehen im Hof und ließ ihr Kind im Laufstall oben. Egal, wie sehr das kleine Mädchen schrie, es musste so sein. Denn bei den dreckigen Mülltonnen hätte sie das Kind ja nicht hinsetzen können. Sie erzählt die Geschichte mit Stolz, ihr Handeln ist für sie der Beweis, was für eine gute Mutter sie war.
Versteht mich nicht falsch, ich weiß, wie sehr meine Oma ihre Töchter liebt. Diese Erzählung ist dennoch sehr vielsagend über die Ansichten der damaligen Zeit.
Wie kann es sein, dass in den letzten 100 Jahren so obskure Ansichten zu elterlichen Liebe entstehen konnten? Eine Antwort darauf, oder zumindest einen Hinweis, bildet der 2009 entstandene Film „Das weiße Band“ von Michael Haneke (Link zu Amazon).
Das Grauen, das sich mir in diesem Film offenbarte, lässt mich jetzt noch erstarren.
Die Story
Die Handlung ist an sich schnell zusammengefasst:
Die Dorfgemeinschaft von Eichwald, einem fiktiven Dorf in Ostelbien im Jahr 1914, ist von wirtschaftlicher Unterdrückung und gegenseitiger Demütigung geprägt. […]
Zur Handlungszeit ereignen sich im Dorf rätselhafte Grausamkeiten: Ein quer über den Weg gespanntes Drahtseil bringt das Pferd des Arztes zu Fall, der dabei schwer verletzt wird. Eine Arbeiterin kommt bei einem ungeklärten Arbeitsunfall ums Leben. Das älteste Kind des Barons wird entführt und brutal misshandelt. Ein Gebäude des Gutshofes geht eines Nachts in Flammen auf, ein neugeborenes Kind schläft stundenlang unbemerkt im winterkalten Zimmer und erkrankt schwer, und einem wegen geistiger Behinderung wehrlosen kleinen Jungen werden die Augen zerstochen. Zu keiner Tat gibt es verwertbare Zeugenaussagen, und weder die jeweils herbeigerufene Polizei noch die Appelle und Nachforschungen des Barons kommen zu einem Ergebnis. [Wikipedia]
Die Familie des Pfarrers
Die Handlung ist nur der Hintergrund für eine fast dokumentarische Darstellung des Umgangs mit Kindern in dieser Zeit, zu Beginn des 1. Weltkrieges. Das Leben der Kinder bestand damals fast ausschließlich aus Unterdrückung, Misshandlung, Gefühlskälte, Gewalt und Missbrauch.
Schon in einer der ersten Szenen wird das offenbar:
Die Kinder des protestantischen Pfarrers des Dorfes kommen viel zu spät nach Haus. Daraufhin hält der Vater einen Monolog, den ich hier gern, so wie er ist, wiedergeben möchte:
Niemand an diesem Tisch hat heute Abend etwas gegessen. Nach dem es dunkel geworden ist und ihr nicht aufgetaucht seid, ist eure Mutter weinend im Dorf herumgelaufen um euch zu suchen. Glaubt ihr, dass wir fröhlich essen und trinken, in dem Glauben, euch sei etwas zugestoßen? Glaubt ihr, dass wir jetzt essen und trinken können, wo ihr hier auftaucht und uns Lügen als Entschuldigung auftischt? Ich weiß nicht was trauriger ist, euer Fortbleiben oder euer Wiederkommen. Wir werden heute alle hungrig zu Bett gehen.
Ihr seid wohl mit mir einer Meinung, dass ich euer Verhalten nicht ungestraft durchgehen lassen kann, wollen wir in Hinkunft wieder in gegenseitiger Achtung miteinander auskommen. Ich werde euch also morgen Abend um die gleiche Zeit vor euren Geschwistern jeweils 10 Rutenschläge zuzählen. Bis dahin habt ihr Zeit, über die Schwere eures Vergehens nachzudenken. Seid ihr damit einverstanden? Gut, dann geht jetzt alle zu Bett. […]
(Verabschiedung der Eltern mit Handkuss durch die Geschwister. Die Zuspätkommer wollen auch den Vater verabschieden.)
Ich möchte von euch nicht berührt werden. Eure Mutter und ich werden heute eine schlechte Nacht haben, weil wir wissen, dass ich euch morgen wehtun muss und weil uns das mehr schmerzen wird als euch die Schläge. Lasst uns also und geht zu Bett. […]
Ich denke, jeder, der sich ein wenig mit der Psyche von Kindern auskennt, merkt, welch Terror in diesen Worten steckt: Ignoranz, Hervorrufen von Schuldgefühlen, emotionale Erpressung, Als Liebe getarnte Misshandlung.
Mir tut diese Szene in der Seele weh. Der Regisseur wies darauf hin, dass er zur Vorbereitung des Films viele Erziehungsberater aus der Zeit gelesen habe. Ich glaube ihm das gern. Auch aus anderen Quellen weiß ich, dass der Tonus damals war, dass Kinder möglichst früh gebrochen werden müssen, damit sie später nicht aufmüpfig oder gar Tyrannen gegenüber ihren Eltern werden.
Es ist davon auszugehen, dass, falls nicht einige Kinder sehr sensible und eigensinnige Eltern gehabt haben, nahezu kein einziger unbeschadet aus so einer Kindheit erwachsen ist.
Eine absolute Empfehlung
Der Film selbst wird gern als einer der Erklärungsversuche für die Nazizeit herangezogen. Auch wenn das nicht Hanekes erklärtes Ziel war, so ist der Schluss doch absolut logisch. Der Mensch, der aus so einer Erziehung entsteht, muss jemand sein, der nach oben katzbuckelt und nach unten grausam ist.
Für mich ist „Das weiße Band“ immer wieder eine Warnung. Auch heute gibt es Erziehungsratgeber, die vor Tyrannen-Kindern warnen und zu mehr Zucht und Ordnung aufrufen. Warum? Wir brauchen keine lebenden Maschinen, die in der Industrialisierung dienen. Die abgerichtet werden. Die Welt braucht heute kreative, sensible und empathische Menschen, die ein starkes Selbst haben, um ein liebendes Vorbild für andere zu sein.
Ich empfehle euch: Schaut diesen Film. Er hat eine sehr langsame Erzählweise und einen dokumentarischen Stil. Lasst euch darauf ein, auch wenn so eine Art Film sonst nicht eure Sache ist. Dieser Film ist ein Muss und erklärt ungemein viel, was in den letzten 100 Jahren in Deutschland passiert ist. Und warum heutige Elterngenerationen so kämpfen müssen, um den zentnerschweren Rucksack ihrer eigenen Erziehung abschütteln zu können.
Shalom,
Euer Mathias