Februar 11

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Attachment Parenting – Der Mythos von der Selbstaufgabe

Der Frust über Attachment Parenting scheint zu wachsen. Obwohl sie immer noch ein Tabuthema ist, finde ich hier und dort immer mal wieder Kritik an der bedürfnisorientierten Erziehungsphilosophie, mal still und vorsichtig, mal frustgeladen und aggressiv.

Attachment Parenting führt zur totalen Selbstaufgabe und Erschöpfung“, heißt es. „Zu starke Bindung behindert die Entwicklung zur Selbstständigkeit.“ Und „Komplette Symbiose mit dem Kind und maximale Verwöhnung – DAS SOLL GUT SEIN??“ Attachment Parenting wird gleichgesetzt mit Vermeidung von Frustration, ständigem Um-die-Kinder-Kreisen, einem alternativen, ökologisch-ganzheitlichen Lebensstil und: dem Ignorieren der eigenen Grenzen, Bedürfnisse und Leidenschaften.

Ja, es stimmt…

Das traurige daran: Sie haben Recht! Eltern, auch und besonders die überzeugten vom „Attachment Parenting“, sind tatsächlich oft erschöpft, übermüdet und frustriert, haben keine Zeit und Kraft für sich selbst, sind nur noch mit dem Waschen von Stoffwindeln beschäftigt! Ewig währende Symbiose und maximale Verwöhnung finden tatsächlich statt und richten erheblichen Schaden an! Ständiges Kreisen um die Kinder und deren vermeintliche Bedürfnisse ist Erziehung zur Abhängigkeit!

Das gute daran: Nichts von alldem ist Attachment Parenting.

Aber was ist Attachment Parenting eigentlich? Der Begriff geht auf den amerikanischen Kinderarzt William und dessen Frau Martha Sears zurück, die sich auf etliche Forschungen der Entwicklungspsychologie berufen. Das Ehepaar Sears entwickelte die berühmten „7 Bs“, womit gemeint ist:

Birth bonding…

… der Körperkontakt zwischen Mutter und Kind direkt nach der Geburt, der heute Standard in den deutschen Kreißsälen ist.

Breastfeeding…

… Stillen nach Bedarf statt Flaschennahrung alle vier Stunden, was heute in der weltweiten WHO verankert ist und dort für sechs Monate bis zwei Jahre empfohlen wird.

Baby wearing…

… das Tragen zur Beruhigung und als Einschlafhilfe bis ins dritte Lebensjahr, ggf. mit einem Tragetuch und nach Belieben auch öfter, mit dem positiven Nebeneffekt, dass es den Gleichgewichtssinn und die Sprachentwicklung fördert.

Bedding close to baby…

… das Schlafen nahe beim Kind, das heißt im selben Bett oder im selben Raum, sodass das Bindungsverhalten des Kindes wahrgenommen und darauf reagiert werden kann.

Belief in the language value of babys‘ cry…

… das Respektieren der Sprache des Babys, die über das Schreien weit hinaus geht, und das einfühlsame Reagieren.

Beware of baby trainers

… das Vermeiden von Schlaftraining, d.h. des Zwingens, gegen den Willen allein einzuschlafen, und des aktiven Anstrebens des Durchschlafens. Hierbei sind Säuglinge und Kleinkinder gemeint.

Balance

… zwischen kindlichen und mütterlichen Bedürfnissen, ggf. unter Einbeziehung von Unterstützung für die Mutter.

Worin liegt nun der Irrtum? Oder: Bedeutet Attachment Parenting tatsächlich den Tod der eigenen Bedürfnisse?

Ein Grundstein für die Baby- und Kleinkindzeit

Was den wenigsten klar ist: das Attachment Parenting Konzept wurde in seinem Ursprung ausschließlich für Kinder in den ersten drei Lebensjahren entwickelt und war eine revolutionäre Reform im Umgang mit Babys und Kleinkindern in den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg. Begonnen bereits mit Sigmund Freud, erforschten Entwicklungspsychologen nun akribisch, welche Phasen Heranwachsende durchschreiten, welche typischen Themen und Verhaltensweisen dabei eine Rolle spielen und welche entsprechenden Bedürfnisse es zu berücksichtigen gilt, damit eine psychisch gesunde Reifung passieren kann.

Das Attachment Parenting legt dabei den Grundstein, aber eben nur für die Baby- und Kleinkindzeit. Natürlich sollte auf ein schreiendes Neugeborenes möglichst zeitnah und bedürfnisgerecht reagiert werden! Natürlich nicht sollte ein schreiendes dreijähriges Kind möglichst zeitnah jede Willensäußerung befriedigt bekommen, ganz besonders dann nicht, wenn es über jegliche Grenzen des Erwachsenen geht! Natürlich ist die Gewährung von Symbiose vonseiten der Mutter bis ins Alter von etwa sechs Monaten lebenswichtig! Natürlich nicht sollte bei einem zweijährigen Kind jede frustrierte Regung, wenn etwas nicht gleich gelingt („Blöde Jacke! Geht nicht zu!“), als Bindungsverhalten fehlinterpretiert und mit Autonomiehemmung oder Verwöhnung beantwortet werden („Komm her! Ich mach es für dich!“)!

Die großen Irrtümer

Der erste große Irrtum ist: „Ein weinendes Kleinkind hat die selben Bedürfnisse wie ein weinendes Neugeborenes.“ Nein. Die Bedürfnisse ändern sich ständig. Was für die eine Phase notwendig ist für eine sichere Bindung, kann für die nächste Phase schädlich und destruktiv sein! Für ein Kind im Alter von eins bis drei Jahren sind die Erfahrung von Grenzen und Regeln UND die Erfahrung von Autonomie hinzukommende elementare Bedürfnisse für seine psychosoziale Entwicklung. Das zu ignorieren führt in der Tat zur Verwöhnung und Schlimmerem und ist nicht bedürfnisgerecht.

Der zweite große Irrtum: „Attachment Parenting hat die totale Erschöpfung und Selbstaufgabe zur Folge.“ Nein. Isolation, Existenzangst, räudige Familienpolitik, Personalmangel in KiTas und ja, die immer währende Benachteiligung von Frauen auf dem Arbeitsmarkt, hat totale Erschöpfung und Selbstaufgabe von Müttern zur Folge!

Der dritte große Irrtum: „Attachment Parenting heißt Stoffwindeln (wenn nicht sogar Windelfrei), Nicht-Impfen, Bioprodukte und gesunde Ernährung, Kinderklamotten selber nähen, blooooß keinen Kinderwagen oder Babysitter, mindestens drei Jahre Elternzeit, kurz: ‚alles richtig machen und/oder alternativ sein‘.“ Nein. Die Übersetzung für Attachment Parenting ist „Bindungsorientierte Elternschaft“. Nicht mehr. Aber auch nicht weniger.

Neben den drei großen Irrtümern ist da auch noch der Druck: „Oh nein! Ich bin aus diesen und jenen Gründen nicht in der Lage, mein Kind zu stillen bzw. zu tragen bzw. in meinem Bett schlafen zu lassen! Mein Kind muss zwangsläufig unglücklich und unsicher gebunden sein! – Und ich eine schlechte Mutter.“

Entwicklungspsychologische Forschungen haben ergeben, dass Stillen, Tragen und das Schlafen im gemeinsamen Bett die Bindung zwischen Mutter und Kind stärkt, aber nicht zwangsläufig zu einer sicheren Bindung führen oder für diese notwendig sind. Was eine sichere Bindung beim Kind bewirkt, sind vielmehr innere als äußere Faktoren. Was ist damit gemeint? Und was bedeutet überhaupt „bindungsorientiert“?

Bindungsorientiert handeln

Die Bindungsforschung zeigt ein Bindungsbedürfnis von Kindern auf, das sich besonders im ersten Lebensjahr durch das Bindungsverhalten äußert. Bindungsverhalten wie glucksen, weinen, schreien und vieles mehr hat körperliche Nähe zur Bezugsperson und emotionale Sicherheit zum Ziel. Auf Bindungsverhalten bedürfnisgerecht antworten zu können, setzt Feinfühligkeit beim Erwachsenen voraus. Feinfühligkeit zeichnet sich dadurch aus, dass die Bezugsperson die Signale des Kindes wahrnimmt, diese zutreffend zu interpretieren weiß, sowie angemessen und prompt auf diese reagiert (sodass der Säugling einen Zusammenhang zwischen seinem Verhalten und der Reaktion herstellen kann).

Ein Kind, auf das zumeist feinfühlig reagiert wird, entwickelt in der Regel ein sicheres Bindungsverhalten, was Vorteile für seine psychische Stabilität mit sich bringt. Feinfühligkeit ist dennoch „vererbbar“. Eine Mutter, auf die selbst nicht zumeist feinfühlig reagiert wurde, kann nicht ohne weiteres feinfühlig auf ihr Kind reagieren. Da nützt leider auch das Tragetuch nichts. Das ist traurig, aber wahr.

Die Bindungsforschung rät: Schaut in euch hinein! Seid ehrlich zu euch selbst! Holt euch Hilfe! Es ist nie zu spät für positive Bindungserfahrungen!

Das ist es, was auch mir am Herzen liegt, euch mitzuteilen. Zufriedene Kinder brauchen zufriedene Eltern. Sichere Kinder brauchen sichere Eltern. Entspannte Kinder brauchen entspannte Eltern. Der wichtigste Schritt, den wir Eltern machen können, ist der Schritt nach innen. Dahin, wo das innere verletzte unsichere Kind sitzt und friert. Dort und genau nur dort beginnt Attachment Parenting. Das hat nichts mit Selbstaufgabe zu tun.

Ganz im Gegenteil.

Shalom,

eure Nicole


Stichworte

Attachment Parenting, Erziehung, Inneres Kind


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  • Ein toller Artikel! Danke, dass einmal die klassischen Vorurteile angesprochen wurden.
    Bei “totaler Erschöpfung” finde ich es aber wichtig, nicht alles auf die widrigen Umstände imm in Politik und Gesellschaft zu schieben. Attatchment Parenting ist enorm kraftraubend, wenn man als Elternteil nicht genau so groß geworden ist. Und, mal ehrlich, wieviele Menschen wurden bedürforientiert erzogen vor 20-40 Jahren? – vor 50-70 Jahren? Wer jetzt nach den Bedürfnissen seiner Kinder Ausschau hält, muss viel Kraft in Dinge stecken, die für extrem viele Menschen ganz neu sind. Alt, gewohnt und jahrzehntelang trainiert sind Verhaltensweisen und Wahrnehmung, die im Gegensatz zu Bedürfnissen sehen.

    Die Kraft, dies sowohl im Alltag immer wieder zu reflektieren, Automatismen aufzudecken und Alternativen zu entwickeln (denn oft liegt es nicht so einfach auf der Hand), immer wieder Mut zu sammeln, nicht bei unerwünschten Situationen in Schema F zu verfallen, Kraft aufzuwenden, auch gegen zig “schlaue Verwandte”, nicht zuletzt die eigenen Eltern, und neo-konservative Freunde zu bestehen, die mit ihrer Kritik um die Ecke kommen und vor allem – die Kraft aufzubringen, sich mit den eigenen Verletzungen der Kindheit, die plötzlich viel präsenter sind, auseinander zu setzen und “nebenbei” (man hat ja gerade ein echtes Kind) das innere Kind zu trösten, ihm zuzuhören und es womöglich zu heilen,…
    …all das kann gut und gerne zu völliger Erschöpfung führen, dazu, eigenen Schmerz stark zu fühlen.

    Ich würde zu Punkt 2 also sagen: Stimmt und auch wieder nicht. Es ist kein “Feature” von Attatchment Parenting, dass es zu Erschöpfung führt. Es ist aber wohl ein “Bug” bei all denen, die diese Kraft erst aufwenden müssen.
    Und das sind nicht Wenige.

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