Oktober 19

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Wie im Märchen! Oder – Warum das Ende einer Liebe auch der Beginn einer neuen Liebe ist.

„Schon fühlte er den Zug des Gewichts und dachte voll Freude bei sich: „Oh, welch ein Glück! Jetzt habe ich einen Riesenfisch an der Angel, von dem ich mich für lange Zeit ernähren kann. Nun muss ich nicht mehr jeden Tag auf die Jagd gehen.“ (aus Die Skelettfrau)

Ich lernte meinen Mann kurz vor meinem Abitur kennen. Für ihn war es gleich klar: Das ist die Richtige. Bei mir dauert es noch ein paar Tage, doch dann war auch ich schwer verliebt. Und so verbrachte ich die Nächte vor dem Abitur statt mit lernen mit lachen, lieben, essen und reden. Das war so viel schöner.
Vor allem reden! Wir konnten stundenlang miteinander reden, tagelang, nächtelang. Über unsere Träume und Visionen, unsere Ansichten, unsere Erlebnisse und was uns sonst noch so bewegte.
Mit keinem anderen Mann zuvor konnte ich mich so gut austauschen. Wir wollten eine bessere Welt miterschaffen und den Weg dorthin wollten wir gemeinsam gehen.
Wir schienen wie füreinander gemacht, wie zwei Hälften von einem Ganzen.
Wir waren glücklich und gefunden zu haben. Wie im Märchen. Unser Kreuzberger Märchen.

Und klar, wir wollten Kinder. Ich wurde jung Mutter. 1992 wurde unser erstes Kind geboren, drei Jahre später kam das zweite Kind.
Unsere Kinder sollten all das, was wir an Schmerzen in unserer Kindheit erfahren hatten, nicht erleben. Wir trugen sie als Babys am Körper, sie schliefen mit uns im Familienbett und wurden beide lange gestillt.
Aus dem Bücherregal meiner Mutter zog ich das Buch „Die Familienkonferenz“ von Thomas Gordon. Dort wurde ein Weg ohne Lob, Strafe und Belohnungen beschrieben, ein gleichwürdiger, gewaltfreier Weg. Das gefiel uns sehr und wir holten uns viele Impulse daraus für unser Leben mit den Kindern.
Ich baute in der Zeit die erste Trageschule Deutschlands auf und organisierte die Ausstellung „Ins Leben tragen“. Zeitgleich arbeitete mein Partner an einem Buch über Tauschringe und eröffnete ein Fahrradgeschäft. Unsere ersten Kinder waren noch klein. Wir waren voll beschäftigt.

Und bei alldem verloren wir einander!

Im Alltag nervten wir uns immer häufiger an, stritten über scheinbare Kleinigkeiten und entfernten uns Stück für Stück voneinander.
Das Leben miteinander zu teilen wurde kompliziert. Uns störten Angewohnheiten des anderen, die vorher kein Problem waren.
Wir kritisierten uns.
Oft.
Die Streitereien kosteten unglaublich viel Kraft.
Wir steckten beide in unserer eigenen Perspektive fest. Der andere müsse sich ändern, das sei die Lösung. Es fiel uns schwer, dass, was wir mit den Kindern lebten, bei uns selbst umzusetzen.

Und wir stellten beide unsere Beziehung in Frage.

War es wirklich die Liebe fürs Leben, die ich gefunden hatten?

Vielleicht ist das Leben ohne den anderen leichter?

Passt doch ein anderer Mensch besser zu mir?

Zwei Dinge, außer, dass ich den Kindern eine Trennung ersparen wollte, hielten mich davon ab:
Wenn wir einen Moment der Ruhe fanden und über unsere Ideen und Visionen sprachen, dann war es wieder da, das Gefühl der Gemeinschaft und der Liebe.
Und die Vorstellung einer Zukunft ohne meinen Mann machte mich unglaublich traurig. Ich überlegte, wie es wäre, wenn ich in Zukunft nicht mehr mit ihm über all das, was wir mit unseren Kindern erlebt haben, reden könnte. Das tat weh und fühlte sich nicht richtig an.

Es kam eine Sylvesternacht, die wir mit engen Freunden verbrachten und in der wir über unsere Wünsche für das nächste Jahr sprachen.
Und dabei wurde uns klar: Es ist offen, was im nächsten Jahr geschieht.
Was wollen wir eigentlich? Lieben wir uns noch? Ist der andere wirklich der, den wir weiterhin als Partner wollen?
Wir zeigten uns in unserer ganzen Verletzlichkeit und Ängsten. Das tat sehr weh, aber setzte einen heilenden Prozess in Gang.

Und dann geschah etwas Magisches…

Einige Wochen später waren wir im Kino und schauten uns den Film „Rendezvous mit Joy Black“ an, ein wunder romantischer Liebesfilm. Das löste in uns einen Knoten. Unsere Hände fanden zueinander und mein Partner bat mich in der Dunkelheit des Kinos um Verzeihung für all das, was er an Schmerzen verursacht hatte. Uns beiden liefen die Tränen über die Wangen, wir hielten uns fest, streichelten uns und sagten uns, wie sehr wir uns lieben.

Wir verliebten uns wieder neu ineinander! Es kribbelte wieder, wenn wir uns sahen. Wir redeten stundenlang, aber nicht über unsere Projekte, sondern über uns.
Wir konnten nicht voneinander lassen.

Ich steckte gerade in der Wiederentdeckung unserer Liebe, da redete ich mit einer anderen Frau darüber. Ich weiß mich nicht mehr ihren Namen, weiß aber noch genau, was sie sagte: „Eure Geschichte erinnert mich an das Märchen Die Skelettfrau“, indem es um Werden, Vergehen und Neubeginn der Liebe geht.“

So schnell es ging besorgte ich mir das Buch, in dem das Märchen zu finden war.

Die Worte, die ich las, berührten mich zutiefst. Unsere Liebesgeschichte wurde dort, in einem jahrhundertealten Mythos, beschrieben. Kann es sein, dass das, was wir erlebt haben, zu einem Zyklus von Geburt, Tod und Neuanfang einer Liebe gehört, den die Menschen seit Anbeginn des Menschseins erleben?
Ist diese Metamorphose einer Liebesbeziehung sogar notwendig, um in eine weitere Entwicklungsstufe zu kommen?

Die Skelettfrau

In dem Märchen „Die Skelettfrau“ hat ein junger Fischer etwas gefangen, was sich nach einem prächtigen Fisch anfühlte. Seine Freude war riesengroß, denn er hoffte, dass nun sein Hunger gestillt würde und die Suche für lange Zeit ein Ende hätte.

So geht es uns am Anfang einer Liebe, in dem wir uns am Ende unserer Suche glauben. Unser Partner ist genau das, was uns gefehlt hat, meinen wir, und er hat natürlich all die Vorzüge, die ein Mensch nur haben kann.
Wenn wir uns verlieben, dann verlieben wir uns meist in das Idealbild des anderen, das mit dem wirklichen Menschen an unserer Seite noch nicht viel zu tun hat.

Denn als der Fischer seinen Fang an Bord zog und sah, was es war, schrie er…

„…beim Anblick der klappernden, mit Muscheln und allerlei Getier bewachsenen Skelettgestalt.
Er versetzte dem Scheusal einem Hieb mit seinem Paddel und ruderte, so schnell er es im wilden Gewässer vermochte, an das Meeresufer.
Aber das Skelett hing weiterhin an seiner Angelleine, und da der Fischer seine kostbare Angel nicht loslassen wollte, folgte ihm das Skelett, wohin er auch rannte.“ (aus Die Skelettfrau)

Das beschreibt, wie mein Partner sich statt des erhofften Idealpartner als jemand erweist, der Seiten an sich zeigt, („Muscheln und Getier“) die ich am liebsten nicht wahrhaben will. Und doch bleiben wir aneinander gebunden, so wie die Skelettfrau dem Fischer folgt. „Das hätte ich nie von dir gedacht“ ist wohl einer der häufigsten Sätze in dieser Zeit. Die Enttäuschung darüber wirft uns in eine tiefe Krise. Und doch ist diese Krise notwendig, um den Anderen in seinem ganzen Menschsein annehmen zu können.

Im Märchen flieht der Fischer vor der Skelettfrau in sein Iglu, um Schutz zu finden. Das erinnert mich an unseren Rückzug voneinander und den Gedanken, das es ohne den anderen einfacher sein würde.

„Doch im Iglu herrschte vollkommene Finsternis, und so kann man sich vorstellen, was der Fischer empfand, als er seine Öllampe anzündete und nicht weit von sich, in einer Ecke der Hütte, einen völlig durcheinander geratenen Knochenhaufen liegen sah. Ein Knie der Skelettfrau steckte in den Rippen ihres Brustkorbs, das andere Bein war um ihre Schultern verdreht, und so lag sie da, in seine Angelleine verstrickt.
Was dann über ihn kam und ihn veranlasste, die Knochen zu entwirren und alles vorsichtig an die rechte Stelle zu rücken, wusste der Fischer selbst nicht…Danach schlief der Gute erschöpft ein, und während er dalag und träumte, rann eine helle Träne über seine Wange. Dies aber sah die Skelettfrau und kroch heimlich an seine Seite, brachte ihren Mund an die Wange des Mannes und trank die eine Träne, die für sie wie ein Strom war, dessen Wasser den Durst eines ganzen Lebens löscht.“ (aus Die Skelettfrau)

Diese Stelle in dem Märchen berührt mich jedes Mal aufs Neue. Ja, erst wenn wir unseren Partner bis auf die Knochen erkennen, alles annehmen, seinen Schmerz, seine starken Gefühle, seine Liebe, sein verletztes inneres Kind, was immer wieder Aufmerksamkeit braucht, erst dann können wir unseren Partner wirklich lieben.

Dieser Prozess wirft uns auf uns selbst zurück, denn es ist notwendig, dass wir uns selbst öffnen. Wir schauen in den Partner wie in einen Spiegel, sehen unsere eigenen Verletzungen in ihm. Wir blicken dem Tod unserer Verliebtheit in Auge.
Lassen wir das zu, kann die Heilung in Gang gesetzt werden, von unserer Liebe und von uns selbst.

„Sie ergriff das Herz (des Fischers), … und sang ein Lied dazu. „Oh, Fleisch, Fleisch, Fleisch“, sang die Skelettfrau. „Oh, Haut, Haut, Haut.“ Und je länger sie sang, desto mehr Fleisch und Haut legte sich auf ihre Knochen.
Und als sie damit fertig war, sang sie die Kleider des Mannes von seinem Leib und kroch zu ihm unter die Decke. Sie gab ihm die mächtige Trommel seines Herzens zurück und schmiegte sich an ihn, Haut an lebendige Haut. So erwachten die beiden, eng umschlungen, fest aneinandergeklammert.“

Eine Liebesbeziehung, in der wir den Zyklus von Werden, Vergehen und Neubeginn wahrnehmen und zulassen, kann wachsen. So, wie auch wir selbst in Krisen mit Seiten in uns konfrontiert werden, die wir im Alltag manchmal nicht wahrhaben wollen, wirft auch eine Krise in der Partnerschaft uns auf das Innerste zurück.
Krisen sind Zeiten der Entwicklung und des Wachstums, wenn wir die Krise nicht verdrängen.

Neue Tiefe…

Das Märchen „Die Skelettfrau“ hat mir dabei geholfen, zu verstehen, in welcher Entwicklungsphase wir uns als Partner befinden und dass das alles für uns ein notwendiger Prozess war. Die Aufgabe in einer Liebesbeziehung ist, den Anderen als ganzen Menschen anzunehmen, nicht nur das, was uns gefällt. Und das ist viel schwerer, als es sich anhört.
Aber der Lohn ist eine neue Tiefe in der Partnerschaft.

Wenn du das Märchen komplett lesen möchtest, findest du es in dem Buch „Die Wolfsfrau“ von Clarissa Pinkola Estés. Dort sind auch noch einige andere eindrucksvolle Märchen und Mythen.

Vor kurzem habe ich ein wunderbares Kinderbuch gefunden, das einen ähnlichen Mythos beschreibt: „ Der kleine Fischer Tong“ von Chen Jianghong. Meine beiden jüngeren Kinder (5 und 8) lieben dieses Buch und schauen sich die Bilder, die sehr phantasievoll sind, immer wieder an. Für sie hat dieses Märchen nichts erschreckendes, sondern es wirkt tröstend und warm.

 

Autorenprofil: Dagmar Gericke ist Mutter von 4 Kindern im Alter zwischen 4 und 25 Jahren und lebt mit ihrem Partner in Berlin und Hessen.
1995 hat sie mit Karin Meyer-Harms die erste Trageschule Deutschlands gegründet. Sie ist Theaterpädagogin, Bloggerin, Unternehmerin und Gemüsegärtnerin. Gewaltfreiheit, Ökologie, freie Bildung und Kreativität sind ihre Herzensthemen, die sie durch ihr Leben begleiten. Außerdem ist sie die Initiatorin der Kindheit in Bewegung, die erstmalig 1998 als Printmedium herausgegeben wurde und seit 2017 endlich online gegangen ist.

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